Maya

 

 

Mit Maya ist etwas gemeint, das sowohl ist wie nicht ist, das also nur scheinbar ist - der äußere Schein. Dinge, wie sie uns erscheinen, sind nicht, wie sie sind. Immanuel Kant sagt an einer Stelle, man könne eine Sache nicht in sich selbst erkennen; die Sache als solche sei nicht zu erkennen. Was immer wir über die Sache wissen, ist eine Projektion. Wenn du dich in jemanden verliebst, ist das deine Projektion. Du fügst dem oder der Geliebten etwas hinzu, du gibst also etwas, und dann bist du beeindruckt von deinem eigenen Beitrag. Das ist Maya. Wir hören nicht auf, Illusionen um uns herum zu konstruieren. Unaufhörlich kreieren wir Wunschträume um uns herum. Das Echte - das also, was ist - ist umhüllt von unseren Träumen und Projektionen. Diese Kraft, Illusionen um uns herum zu erschaffen, heißt Maya - diese Magie, diese Geisteskraft, Dinge zu erschaffen, die gar nicht da sind, oder Dinge mit Qualitäten auszustatten, die sie nicht haben. Und in dieser Welt, dieser künstlich erschaffenen Welt, leben wir. Natürlich, ganz selbstverständlich ist die Ernüchterung vorprogrammiert. Es dauert vielleicht seine Zeit, doch sie kommt; in dem Moment, in dem die Wirklichkeit durchbricht, zerplatzt der Traum. Wir helfen uns auch gegenseitig beim Erschaffen unserer Träume. Zwei sind verliebt, und schon helfen sie sich beim Bau ihres Traumes; beide bringen Qualitäten zum Vorschein und zeigen sich von Seiten, die nicht der Wirklichkeit entsprechen - Masken, Fassaden. Sie helfen einander, sich gegenseitig zu betrügen. Alles, was wundervoll ist, wird nach vorne gerückt, alles Hässliche ganz weit nach hinten. Alles Liebenswerte wird herausgeputzt, und das, was weniger liebenswert ist, wird vergessen; es wird abgedrängt ins Unbewusste, wir schaffen uns ein falsches Gesicht. Tatsächlich aber kann niemand lieben, wenn er nicht auch hassen kann. Wann immer jemand demnach verliebt ist, heißt das, dass er das gleiche Potenzial zum Hass in sich trägt wie das zur Liebe. Beides existiert gleichzeitig, beides sind Seiten desselben Phänomens.

 

Du kannst nicht lieben, wenn du nicht hassen kannst; das ist ein und dieselbe Energie. Der Hass-Anteil jedoch ist ins Unterbewusstsein verbannt, während der Liebesanteil groß herausgestellt wird. Er und Sie, sie beide zeigen sich allein ihre Liebe und unterdrücken zugleich deren unvermeidliche, nicht wegzudiskutierende Kehrseite. Sie schaffen sich eine Traumwelt, und weil sie so schöne Träume erschaffen haben, verlieben sie sich. Doch wie lange hält man das durch? Der verleugnete Teil fordert sein Recht; er wird Rache nehmen, wird explodieren. Je massiver er unterdrückt war, desto verheerender wird die Explosion werden. Ihr könnt eure Masken weiter tragen, wenn ihr euch nicht so nah seid, nicht so eng miteinander. In dem Augenblick aber, wenn ihr keine Distanz mehr zueinander habt, wenn ihr aufeinanderhockt... Wenn dann die Liebe fordert: „Jetzt seid euch nah, lebt in einem Haus, heiratet jetzt - nein, jetzt können wir nicht mehr getrennt leben Unmöglich. Diese Feststellung, „jetzt können wir nicht mehr getrennt leben löst die Situation aus, in der der unterdrückte Teil auf Wiedergutmachung drängt. Er wird sich zeigen, wird deutlich machen, wer er ist. Dann zerspringt der Traum in Tausend Stücke. Und schon wieder schon wieder machen wir uns etwas vor: „Dieser Mensch besteht nur noch aus Hass." Zuerst haben wir geglaubt, der andere wäre „Liebe pur“', jetzt gehen wir in die zweite Falle, die Kehrseite der ersten; jetzt wird der andere zu „Hass pur", absolut toxisch. Und wieder ist dies nichts als eine Projektion, wieder wird der zweite Teil nur projiziert. Und wir fahren fort, in diesen Projektionen zu leben. Das ist die Kraft von Maya. Das ist die geheime Zauberkraft eures Verstandes. Sie kann projizieren, und sie kann auch Desillusionen kreieren. Sie kann Träume erschaffen und sie dann für die Wahrheit halten. Beides - erst selbst schaffen, dann darauf hereinfallen! Und wenn die Träume dann in Tausend Stücken liegen, bist du weit entfernt davon, dir das grandiose Ausmaß des trügerischen Spiels bewusst zu machen. Ist der Traum zerplatzt, bastelst so sogleich wieder an einem neuen. Das Platzen bestimmter Träume bedeutet also nicht, dass auch das Maya platzt. Der Weise sagt, Maya sei die naturgegebene Fähigkeit, sich selbst zu hypnotisieren; es ist Selbsthypnose. Solche Selbsthypnose kann Dinge kreieren, die gar nicht existieren, und sie kann Dinge verbergen, die es gibt. Ein Wahrheitssucher, einer, der die Wirklichkeit erfahren möchte, muss das sehr gut verstehen - er muss es tief im Herzen fühlen.

 

Diese Kraft, dieses Maya, ist unsere Fessel, unsere Ahnungslosigkeit, Grund unseres Wahnsinns und unseres Leidens - indem es erst Wunschträume schafft und dann Frustration, erst Illusionen, dann Ernüchterung. Und wir werden nicht müde, es zu wiederholen; Leben für Leben wiederholen wir es, und die Kraft setzt ein und wirkt und wirkt. Dazu kommt: Jedes Mal wenn wir desillusioniert sind, sind nicht wir dafür verantwortlich. Schuld haben der oder die andere, die Umstände, der Gegenstand. Und wenn wir die Illusion erschaffen - auch dann sind wir nicht verantwortlich. Schuld haben auch hier die anderen, die Dinge, der Liebhaber, die Geliebte, die ganze Welt. Dies ist so, weil der Projektor in uns ist. Wir werden uns dieses Projektors niemals bewusst, wir nehmen nur die projizierte Szene war, das projizierte Phänomen. Wie im Kino steht der Projektor hinten; kein Mensch schaut nach hinten, um den Projektor zu betrachten. Jeder schaut auf die Leinwand. Und auf der Leinwand befinden sich nur projizierte Bilder. Das Wirkliche, die eigentliche Kraft ist hinten. Die ganze Welt ist nichts als eine Leinwand; unsere ganze Objektivität ist nicht mehr als eine Leinwand, und der Projektor ist in uns. Fortwährend projizieren wir Bilder auf die Leinwand der Welt, um diese dann in zunehmendem Maß für echt zu halten. Wir fangen an, alles für echt zu halten, was wir auf der Leinwand sehen. Das ist Maya, die Fähigkeit, Bilder auf die Leinwand der Welt zu projizieren. Wir haben diese Leinwand wegen des ständigen Flusses von Bildern niemals wahrgenommen. Ein Bild folgt dem anderen, ein Bild ersetzt das andere. Da gibt's schon Lücken, aber wir sind so beschäftigt mit den Bildern, dass uns die Lücken nie auffallen. Verlangsame deine Projektionen, fahr deinen Projektions-Apparat herunter. Das passiert schon mal im Kino ein Fehler in der Technik, der Film läuft langsamer, und plötzlich siehst du die Lücken. Ein Bild ist vorbei, das nächste noch nicht da - und auf einmal ist da diese Lücke, und die Leinwand wird sichtbar. In der Meditation versuchen wir unsere Projektionsanlage zu verlangsamen. Wenn die Apparatur heruntergefahren wird, und du nur für einen einzigen Moment die Lücke wahrnimmst, diese bildlose Lücke auf der Leinwand, dann bekommst du eine erste Ahnung.

 

Auf einmal weißt du, dass du in einer selbst erschaffenen Traumwelt gelebt hast, und dass, was immer du für die Welt gehalten hast, nicht die wirkliche Welt war; es war deine Welt. Jemand ist gestorben; du hast ihn geliebt. Plötzlich ist da eine Lücke; auf einmal kannst du nicht projizieren; der Mensch ist gestorben, du kannst nicht fortfahren, deine Bilder auf ihn zu projizieren. Du wirst etwas Zeit brauchen, um ein anderes Objekt zu finden, auf das du die gleichen Träume projizieren kannst; da ist eine Lücke. Manchmal ist es ein Todesfall, manchmal tiefes Leid, manchmal eine Krankheit oder eine unerwartet auftretende Gefahr die Apparatur stockt, und da ist sie, die Lücke. Aber wir sind ja trickreich. Wir sind so trickreich, dass wir ganz einfach die Augen verschließen. In dem Moment, wenn sich die Lücke auftut, schließen wir einfach die Augen. Jemand ist gestorben, und du musst weinen; deine Tränen verklären dir den Blick, und du kannst die Lücke nicht sehen. Die Lücke ist real, denn jemand ist gestorben. Nun sei auch wach, und erkenne, dass das Objekt verschwunden ist und deine Träume sich im luftleeren Raum befinden - sie können ihr Objekt nicht finden!

 

Sei achtsam in diesem Moment, und vielleicht bemerkst du die Lücke, die Leinwand - und nicht deine eigene Welt. Aber nein, der Verstand ist mit allen Wasser gewaschen. In dem Moment, in dem sich ganz plötzlich eine Lücke auftut, werden unsere Augen anderweitig beschäftigt. Und wieder sind wir nicht fähig, in diesen Zwischenraum zu blicken. Wir schluchzen und weinen - und werden weiter schluchzen und weinen, bis wir ein Ersatzobjekt gefunden haben, um wieder mit jemandem zu lachen, zu leben und die gute alte Illusion fortzuführen. Buddha sagt, im Falle eines Todes meditiere: meditiere darüber. Es ist dieser Moment. Bei tiefem Leid, meditiere. Im Falle der Ernüchterung, meditiere. Dies ist der Moment. Verpasse diesen Moment mit nichts, das dich von der Lücke ablenken könnte. Die Apparatur, die Fähigkeit, die Kraft, Illusionen zu erzeugen, ist Maya. Sie ist da und überaus real, denn sie funktioniert. Diese Selbsthypnose muss aufhören, andernfalls werden wir niemals der Wirklichkeit ins Auge blicken. Und solange man ihr nicht gegenübersteht, solange man der Realität nicht begegnet, solange ist man nicht.

 

Träumen kannst du nur im Schlaf und projizieren nur als Ahnungsloser. Ahnungslosigkeit bedeutet also spirituellen Schlaf, ein spirituelles Schlafwandeln. Diese Ahnungslosigkeit kannst du nicht überwinden, indem du mehr und immer mehr lernst. Diese Ahnungslosigkeit kann nicht durch Information überwunden werden, nicht durch das Anhäufen von Wissen, denn diese Form von Ahnungslosigkeit ist nicht etwa auf mangelndes Wissen zurückzuführen. Diese Ignoranz ist eine deiner aktiv eingesetzten Fähigkeiten - und nicht passiv nur das Fehlen von Unterricht und Wissen. Daher kann jemand ein überaus belesener Mensch sein und doch in seinen Illusionen leben, in seinem ewig gleichen hypnotischen Trancezustand, im ewig gleichen Schlaf. Das ist der Unterschied zwischen Wissen und Erkenntnis. Erkenntnis setzt da ein, wo es keine Ahnungslosigkeit gibt - Ahnungslosigkeit als aktives Instrument von Maya und nicht bloß als das Fehlen von Schulbildung und Wissen, nicht nur als Mangel. Erkenntnis setzt da ein, wo es keine Ahnungslosigkeit gibt; wenn dieses aktive Instrument der Illusionserzeugung aufhört mit der Erzeugung. Wissen bedeutet, dass die Ahnungslosigkeit weiterhin existiert, allerdings im Stillen, verborgen in Information. Man kann sie verstecken, man kann sie überdecken, man kann sich eine vordergründige Gelehrsamkeit aneignen, ohne überhaupt etwas zu wissen. Dabei können Schriften helfen, Lehrer sind hilfreich, ebenso Religionen und philosophische Richtungen. Nur Meditation wird dir nicht weiterhelfen, wenn es dir um eine falsche Form von Wissen geht. Alles andere ist nützlich, hilft dir beim Träumen. Nur Meditation nicht, denn allein Meditation ist in der Lage, dieses ganze Gebäude von Ahnungslosigkeit und fehlgeleitetem Wissen zum Einsturz zu bringen. Und auf einmal bricht dann die Erkenntnis hervor. Dann siehst du ihr ins Auge, dann stehst du mitten in der Wirklichkeit.

 

Meditation ist eine Technik, eine andere angeborene Technik der Selbsthypnose außer Kraft zu setzen, Maya. Maya kann nur durch Meditation außer Kraft gesetzt werden, weil Meditation deine Projektions-Maschinerie anhält. Und wenn du tief meditieren kannst, kommt sie sogar vollständig zum Stillstand. In dem Moment, in dem sie komplett ausgeschaltet ist, ändert sich alles; du bist transformiert und lebst in einer neuen Welt, einem neuen Bewusstsein. Dieses Bewusstsein ist Brahman. Gebrauche die Meditation also als eine Technik zur Ent-Hypnotisierung. Maya ist Hypnose, Meditation ist Ent-Hypnotisierung.  (Osho)